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"Durch eine metaphysische Landschaft voller Spuren und Wege schreitet die „Psychohistorie“. Sie ist eine mehrdimensionale Figur, teils Mensch aus Fleisch und Blut, teils abstrakte geisterhaft durchscheinende Idee, zugleich Mann und Frau, Weiß und Schwarz, ordentlich gekleidet und in Lumpen. Die Historie trägt eine Schriftrolle bei sich, aus der Schriftzeichen und Codes entspringen, die an ihrem Gewand entlang gleiten, um sich mit den Bildern von konkreten Menschenschicksalen zu verbinden und zu einer Schleppe der „festgeschriebenen Geschichte“ zu werden. Die Wege, Spuren und Furchen der Geschichte gehen durch die Figur der Historie hindurch, schneiden, verletzen sie, wollen sie zurückhalten wie Seile. Die Historie schreitet dennoch voran, schaut zugleich zurück. Sie schaut uns in die Augen und fragt. In ihrem Inneren zeichnet sich die rote Gestalt des Alten Egos ab, hermetisch verschlossen, die Historie dennoch einfärbend. Darin sind die persönlichen, un- und unterbewussten Geschichten vereint, die aus der allgemeinen „Historie“ eine „Psychohistorie“ machen. 
Der Psychohistorie voran schreitet ein Kind. Ist es das, was die Historie noch nicht erfasst hat? Oder weiß es mehr? Ist es ein Symbol der Zukunft? Oder ist es jener Anteil in uns, der fragt „Wohin gehen wir“? Es scheint, das anderen Ufer anzusteuern, das, wo die Sonne scheint. Aber wird es das dünne Eis tragen?“ Gedanken zu "Psychohistorie", Elitza Nanova (Fotoküntlerin)


Psychohistorie im Spannungsfeld zwischen Kunst/Literatur und Wissenschaft

von Prof. Dr. Peter Schulz-Hageleit

Vor rund fünfzehn Jahren ist die Psychohistorie in den Rang eines geschichtswissenschaftlichen Grundbegriffs erhoben worden, u.a. in der Absicht, wie es heißt: die Psychologie zu historisieren (→Röckelein). Im deutlichen Unterschied dazu wollen die folgenden Texte weder die Psychologie historisieren, noch die Historie psychologisieren, sondern die Dynamik der Verflechtungen von Geschichte und Lebensgeschichte in ein und derselben Person thematisieren (das ist zumindest ein Ziel der im Folgenden fragmentarisch präsentierten „Psychohistorie“).          

Elitza visualisiert diesen Grundgedanken mit künstlerischer Eigenwilligkeit. Wir sehen eine Person, die zurückblickt, und ihr Alter Ego, das in eine ungewisse Zukunft vorausschaut. Wir können die Positionen der beiden Personen gedankenspielerisch umtauschen, so dass das nur schemenhaft sichtbare Alter Ego zur Hauptperson wird, die sich zurückwendet, und die jetzige Hauptperson als Alter Ego gradlinig nach vorne (in die Zukunft) blickt, wie überhaupt alle Details des Bildes nicht in starrer Fixierung und Bedeutung, sondern in einem Prozess des vielfältigen Wandels zu denken sind. Ein dynamisches Geschichtsbewusstsein, das sich nicht historistisch mit dem Rückblick zufriedengibt, ist unlösbar mit Gedanken und Wünschen für die Zukunft verbunden („Zukunftsbewusstsein“). Die Sonne - geht sie auf oder geht sie unter?

Der psychohistorisch reale Ursprung der Psychohistorie, wie sie im Folgenden skizziert wird, liegt in der Zeit des Nationalsozialismus, die ich, 1939 geboren, als Kind „erlebt“, aber bis heute im Grunde nicht ganz verstanden habe. Die unmittelbaren Folgen des NS liegen hinter uns, aber verschiedene Nachwirkungen sind immer noch zu spüren.

Der innige Austausch zwischen Geschichte, die sich der Beobachtung objektiv-sachlich darbietet, und den inneren Resonanzen, die eben diese Geschichte in uns erzeugt, ist eher ein Themenfeld für Kunst und Literatur als für Wissenschaft. Christa Wolf (1929-2021) begann ihren bekannten Roman „Kindheitsmuster“ mit folgendem Satz: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

„Das Vergangene“ war für Christa Wolf die NS-Zeit, die sie als Kind erlebt hatte. Sie konnte nicht voraussehen, dass ihr bedeutungsschwerer Satz fünfzig Jahre später wiederholt werden könnte, aber mit einem neuen und inhaltlich ganz anderem Inhalt (Copeland): „The past is still with us – inside of us for anyone who cares to look.“

Eine künstlerisch brillante Lösung für dieses Auseinanderklaffen von desintegrierter Vergangenheit und ganzheitlich erlebter Gegenwart hat der afrikanische Künstler Roméo Mivekannin (geb. 1986) gefunden. Er platzierte sich selbst optisch in alte Gemälde, die ereignisgeschichtlich längst überholt sind und doch eben jene Vergangenheit widerspiegeln, die ihn psychohistorisch umfasst.

Literatur

Austilat, Andreas: Game of Thrones (Bericht über einen afrikanische Königsthron, der eine Ausstellung in Berlin schmücken soll). In: Der Tagesspiegel, 22. Februar 2021.
Copeland, Libby: Racial history written in genes. In: The New York Times, Thursday, February 18, 2021.
Nayeri, Farah: A painter explores his royal heritage. In: The New York Times, Friday, February 19, 2021.
Röckelein, Hedwig: Psychohistorie. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hrsg. von Stefan Jordan. Reclam, Stuttgart 2007.
Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Luchterhand, Berlin und Weimar 1984 (11. Auflage).


Prof. Dr. Peter Schulz-Hageleit – Texte zur Psychohistorie

 

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